Anbetung heißt, Gott zu sehen. Im Leben eines Anbeters, und gerade im Le- ben eines leitenden Anbeters, geht es viel mehr um eine Fähigkeit zur Vision als um eine bestimmten Persönlichkeitstyp oder bestimmte Begabungen. Be- vor man Gott anbeten kann, muss man ihn erst einmal sehen. Bei der Anbe- tung wie bei der Anbetungsleitung geht es darum, Gott zu sehen. Die großen Anbeter aller Zeiten, Leute, die Geschichte geprägt haben, haben Gott ge- sehen. Sie hatten eine Vision Gottes. »Und das Wort des Herrn kam zu Ab- raham in einem Gesicht (einer Vision)« (Gen. 15,1). Der Ausblick auf Gottes Herrlichkeit - obwohl nur von hinten - gab Moses die Kraft, die Israeliten auch weiterhin in der Anbetung zu leiten. Oder Jesaja: »In dem Jahr, als Kö- nig Usia starb, sah ich den Herrn sitzen auf einem hohen und erhabenen Thron, und sein Saum füllte den Tempel.« Angefangen bei den Richtern und Königen bis hin zu den Propheten und Aposteln, war es diese Erfahrung der Sicht Gottes, der Vision, die diese Leute und ihre Anbetung von anderen un- terschied. Sie sahen Gott und konnten nicht mehr zum gewöhnlichen Leben zurückkehren.Und andere folgten ihnen, angespornt durch diese Vision von Gott.
Durch alle Jahrhunderte hindurch unterschieden sich die Heiligen durch ihre Fähigkeit, Gott zu sehen. Bernhard von Clairvaux zum Beispiel sagte: »Je- sus, nur an dich zu denken, erfüllt mein Herz mit Freude. Aber weit süßer noch ist es, dein Gesicht zu sehen und in deiner Gegenwart zu ruhen.« Tho- mas von Aquin, wohl der größte Theologe des Mittelalters, verbrachte sein ganzes Leben damit, Gott zu verstehen. Sein Einfluß auf die theologische Gelehrsamkeit ist kaum zu überschätzen. Aber am 6. Dezember 1273 hatte er während des Besuchs einer Messe eine Vision von Gott. Als man ihn bat, sie aufzuschreiben, antwortete er: »Ich habe so wunderbare Dinge gese- hen, dass alles, was ich in meinem Leben je geschrieben habe, mir dagegen wie Stroh erscheint. Jetzt kann ich in Ruhe auf das Ende meines Lebens warten.« Er schrieb danach nie wieder etwas. Im Jahre 1393 vollendete Juli- ane von Norwich ihre »Offenbarungen der göttlichen Liebe«, eine schriftli- che Zusammenfassung ihrer sechzehn Visionen von Jesus. Und die Liste könnte fortgeführt werden.
Anbetung leiten heißt, Gott zu sehen. Angefangen bei Liedern wie »Be Thou my vision«, zu den modernen Chorussen bis zu den aktuellen Songs wie »Open the eyes of my heart, Lord/ Herr, öffne du mir die Augen«, drücken wir unseren Wunsch aus, in der Anbetung Jesus zu sehen. Aber worum geht es dabei? Im Alten Testament lautete die Frage stets: Wie kann man über- haupt Gott sehen ohne zu sterben? Heute könnte diese Frage lauten: Wie kann man Gott sehen, ohne in die Psychiatrie eingeliefert zu werden? Also, was heißt es eigentlich, Gott zu sehen? Und mehr noch, wie geschieht das so, dass es uns in ein Leben der Anbetung führt?
Es gibt kein Geheimrezept. Und dies ist auch kein praktisches Essay. Anbe- tung ist überhaupt nicht praktisch. Marva Dawn, eine Theologin unserer Zeit, nennt Anbetung eine »königliche Zeitverschwendung«. Gott anzube- ten und andere in die Anbetung zu leiten - beides entsteht aus einer Fähig- keit zu heiliger Vorstellungskraft. Diese Idee ist weder neu noch originell, aber sie könnte deshalb dennoch revolutionär sein. Hier ist sie: Anbetung wird aus einer Vorstellungskraft geboren, die verwurzelt ist in Erinnerung, kul- tiviert durch Aufmerksamkeit und genährt durch Disziplin (Anm. der Überset- zung: im englischen Wort »imagine« klingen die deutschen Begriffe für Vor- stellung, Vorstellungskraft, Bild, Verbildlichung und Vision mit).
Die großen Prediger und Poeten und Propheten, die großen Liederdichter und Sänger, waren die, die aus einer bildlichen Vorstellungskraft der Schau Gottes heraus lebten. Weil sie sahen, verwandelte ihre Leitung die Ohren der Menschen in Augen. Hören schafft Raum für das Sehen, und Anbetung gipfelt buchstäblich in der Vision, der Schau Gottes. Vorstellungskraft - die Kraft, bildlich zu sehen. Ist es nicht das, was leitende Anbeter tun? Es geht ja nicht nur darum, Lieder zu singen, sondern darum, Gott zu sehen und an- dere mit hineinzurufen in diese Vision. Der leitende Anbeter steht, nein kniet, vor all den Orten des Staunens über Gott und sagt einfach, aber auf kreati- ve Weise: »Sieh dir die Aussicht von hier aus an«. Der leitende Anbeter reist durch die erstaunliche Geschichte Gottes, bleibt an allen Aussichtspunkten stehen und staunt über die weiten Horizonte der Herrlichkeit Gottes, die ihm dort offenbart werden. Dann sagt er, klar und deutlich: »Seht euch diese Aussicht an«.
(Im englischen Original folgen hier noch einige Beispiele dafür, wie bestimmte Lieder uns an verschiedenen »Aussichtspunkten« des Lebens dahin führen, die Welt aus Gottes Perspektive zu sehen und zu sagen: Sieh dir diese Aus- sicht mal an. Da es sich nur um englische Liedtexte handelt, macht es hier keinen Sinn, diesen Abschnitt zu übersetzen. Das englische Original ist hier nachzulesen.)
John David Walt, Jr. ist »Vice President of Community Life« und »Dean of the Chapel« am Asbury Theological Seminary in Kentucky. Zusammen mit Chris Tomlin (und Isaac Watts ...!) hat er die moderne Version des alten Kir- chenlieds »The wonderful cross« geschrieben und ist außerdem einer der Leiter der amerikanischen »Passion« Anbetungsfestivals.
Quelle: www.heartofworship.com (jetzt nicht mehr Online). Das englische Original ist jetzt erschienen in "The worship files" (Matt Redman u.a.)- Deutsche Übersetzung: Guido Baltes
Autor: John David Walt
Jahr: 2000
Update: 05.04.2006
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